Die Auswahl eines Themenschwerpunktes für den Workshop führte zu einem intensiven Austausch mit all denjenigen, die im ehemaligen Käte Hamburger Kolleg an einem postkolonialen Blick auf das „Recht“ mitgewirkt haben. So hatte Jan Suntrup in seiner Habilitationsschrift (Umkämpftes Recht. Zur mehrdimensionalen Analyse rechtskultureller Konflikte durch die politische Kulturforschung, Frankfurt am Main 2018) bereits den Horizont des Rechtsbegriffs erheblich erweitert, und damit postkoloniales Gedankengut in die kulturwissenschaftliche Analyse des Rechts einfließen lassen. Auch Jure Leko ist einem solchen dezentrierten Blick auf Normativität über den Anerkennungskampf von Sinti und Roma nachgegangen. Schließlich lag die Kolonialgeschichte Frankreichs, die Überwindung eines auf Paris zentrierten Theorieblicks und die Frage nach anderen Geltungskulturen außerhalb und aber auch in Wechselwirkung mit okzidentalen Rechtskulturen im besonderen Aufmerksamkeitsinteresse von Raja Sakrani. Unter den Fellows befanden sich mit Upendra Baxi selbst prominente Vertreter postkolonialen Denkens im Recht, was in seiner Person umso eindrucksvoller ist, als Upendra sowohl mit der reinsten aller Rechtslehren, nämlich der von Kelsen, aus zahlreichen Begegnungen in Berkeley persönlich vertraut war und dann einer der einflussreichsten Vertreter eines Rechtsdenkens in Indien geworden ist, in dem sowohl koloniales Erbe, lokale Gewohnheitsrechte und internationales Recht ineinander gelagert sind, sodass die bahnbrechende Idee des legal pluralism hier ihren Ausgangspunkt hat. Aus dem Kreis der Fellows möchte ich nur noch Judith Hahn, Propfessorin für kanonisches Recht an der Universität Bonn, benennen, deren Auseinandersetzung mit dem kanonischen Recht im globalen Kontext die Möglichkeit einer Rückanwendung postkolonialer Perspektiven auf das alte Europa bietet! Dazu noch später…
Schließlich aber darf die besondere Rolle der Dissertation von Youssef Dennaoui nicht vergessen werden, der in seiner Promotionsschrift „Wissen und Macht in der globalen Moderne“ (Berlin 2010) einen tiefen Einblick in die Bedeutung postkolonialer Theoriebildung gegeben hatte. Von Edward Saids Orientalismus-Studie bis zu Stuart Hall, Dipeh Chakrabarty und Shalini Randeiria hatte er das Umfeld postkolonialen Denkens ausgeleuchtet, das von Derrida, Levinas und Foucaults Kritiken profitiert, um mit Franz Fanon und W.E.B. Du Bois auf autochthone Traditionen zurückzugreifen, die zu einer ganz eigenen Konstellation der Theoriebildung bei Homi Bhaba führen.
Daher war es auch nicht verwunderlich, dass die Ausgangsfrage unseres Tisches, warum er nicht vom Recht und der Ordnungsfrage à la Hobbes strategisch ausgegangen sei, mit dem Hinweis auf Literatur als des ihm vertrauteren Erkenntnismediums beantwortet wurde. Ob die Literatur am Ende die bessere Soziologie sei, möchte man in dieser Allgemeinheit nicht beantworten, aber dass es Wege von der Literatur ins soziologische Denken gibt, ohne Goethe oder eher mit ihm wie bei Homi Bhabha, liegt auf der Hand. Dies hat auch unseren Verdacht bestätigt, dass sich mit Homi Bhabas Ansatz eines verfremdenden Denkens der Moderne unsere Welt anders verstehen lässt. Eben auch das Recht! Dies konnte Professor Daisy Onyige, gegenwärtig fellow an der Émile Durkheim-Forschungsstelle, in ihrem Beitrag über normative Schichtungen in Nigeria, vom Kolonialrecht bis zu den fortexistierenden Gewohnheitsrechten, dem internationalen Recht sowie den Anforderungen der Menschenrechte demonstrieren. Raja Sakrani hat in ihrem Beitrag die von Homi Bhabha aufgenommene Frage nach der Rolle des „Anderen“ vertieft und am Beispiel islamischer Rechtskulturen weiter ausgeführt: koranische Interpretationen des „Anderen“, vornehmlich der Buchreligionen, institutionelle Ordnungen wie das Convivencia-Projekt in Al‘ Andalus und die Defizite in der Anerkennung des Anderen und seiner Weltsichten. Das von der Volkswagenstifung als Opus magnum geförderte Projekt von Judith Hahn schließlich befasste sich mit einem ungewöhnlichen Blick auf vermeintlich Alteuropäisches, nämlich das kanonische Recht, also diejenige Rechtsordnung die von Rom aus das Weltreich des Katholizismus durchdringt. Aber ebenso wie ein Mcdonalds in Tokio anders als in Moskau schmeckt, so ist die Umsetzung der normativen Ordnungen der Ecclesia in Mexiko und den Niederlanden, in Italien und Deutschland, in Kolumbien und den USA keineswegs identisch. Das heisst, es ist eine Art wissenschaftlicher Revolution im Verständnis des kanonischen Rechts zu erwarten, die sich postkolonialer Denkfiguren bedient. Didem Ünüvar schließlich griff noch einmal über das Recht hinaus auf die Verfasstheit einer ungeklärten Moderne: Sie warf die grundlegende Frage auf: ist die Lieblingsdenkfigur von „Hybridität“ und des „dritten Raumes“ überhaupt noch relevant, angesichts einer Bewegung zu „stabilen“, essentialistischen Identitäten, räumlicher Geschlossenheit als dominantem Kriegsmotiv und einer Rückkehr von Nationalismen und Identitätspolitiken? Unterhaltsam war ihr Kernbeispiel des Döner Kebab. Ihn gibt es weder in der Türkei, noch in der imaginären Essgemeinschaft in Deutschland, sondern nur als hybrides Produkt einer Migrationssituation, die von Didem Ünüvar eindringlich geschildert wurde.
In der Abschlussrunde mit Homi Bhabha wurde darauf insistiert, dass die normative Dimension – mit den Denkinstrumenten Homi Bhabas – nochmals eine andere Aufmerksamkeit verdient, aber vielleicht gerade von Denkmomenten profitieren kann, die Homi Bhabha in seiner key note tags zuvor entfaltet hatte: vor der Frage von „gerecht“ und „ungerecht“ nicht einzuknicken, die körperliche Haltung von George Floyd, die schließlich unter dem Kniedruck der Polzei in Minneapolis zu seinem Tod führte, als juridisches Zeichen zu lesen, der Kategorie des „Verlustes“ eine neue Aufmerksamkeit zu widmen und dabei auf seine Sinne zu vertrauen…
So wie beim Probieren des Weines ein Aroma aufsteigt, das die Sinne frei setzt, mag auch der von Homi Bhaba erwähnte und jüngst verstorbene Bruno Latour, der aus einer Familie von Weinhändlern in Beaune, Bourgogne stammt – und man könnte Montesquieu oder auch Bernard Heidsieck hinzufügen – sich vom Wein inspiriert haben. So war die keineswegs weinselige Analyse unserer Zeit von einer tiefen Überzeugung getragen, dass wir in unglücklichen Zeiten der Polykrisen nicht ganz verloren sind. Das habe ich auch als eine Botschaft an die Émile Durkheim-Forschungsstelle Krisenanalysen wahrgenommen!