Die CERC-Jahrestagung 2024 begann am 14. November mit einem inspirierenden Vortrag von Patrick Boucheron (Collège de France, Paris) über die Rolle der Geschichtswissenschaft in Krisenzeiten. Nach der Begrüßung durch Birgit Münch (Prorektorin für Internationales) folgte eine lebhafte Diskussion, in der auch aktuelle politische Entwicklungen wie die US-Wahl thematisiert wurden.
Am 15. November bot ein dichtes Programm in drei Sektionen vielfältige Beiträge:
1. Theorie und Literatur: Anke Grutschus, Giuditta Caliendo und Paola Pietrandrea präsentierten linguistische Konzepte; Paul Geyer analysierte Moral und Subjektivität in Diderots Le Neveu de Rameau; Michael Bernsen thematisierte, wie eine europäische Literaturgeschichte geschrieben werden kann.
2. Fallstudien: Christine Krüger beleuchtete die Friedensbewegung (1848–1933); Markus Dauss sprach über symbolische und soziale Ordnungen der Ruinen; Christina Schröer untersuchte Säkularisierung in Deutschland und Frankreich, während Werner Gephart deutsche und französische Denkmuster zu Krisen analysierte (siehe unten).
3. Didaktik: Sylvain Doussot und Nadine Fink regten dazu an, Denkmuster im Unterricht bewusst zu reflektieren. Peter Geiss vertiefte dies im Kontext politischer Umbrüche, und Sarah Dietrich-Grappin thematisierte die Rolle der Nation im Fremdsprachenunterricht.
Den Abschluss bildeten vertiefende Kommentare von Cheikh Sene, Gabriel Galvez-Behar und Roland Ißler sowie ein Austausch über zukünftige Arbeitsgruppen.
Werner Gephart - Auszug aus dem Vortrag
Habitudes de penser la „crise“
Sémantiques et pratiques en France et en Allemagne
Leider kann ich Ihnen heute nur eine Skizze vorstellen. Eigentlich wollte ich das nie mehr machen, anderen erzählen, was man eigentlich machen müsste, ohne seine Arbeit geleistet zu haben.
Gleichwohl halte ich das Thema für außerordentlich relevant und zum anderen glaube ich, dass ein besseres Verständnis des „Krisenkomplexes“ und seiner kulturellen Einbettung dabei hilfreich sein kann, auch praktische Lösungen für die Krisenbewältigung zu finden. Mit der Auslotung von kulturellen Differenzen begibt man sich freilich in gefährliches Gelände. Oft lässt sich die Karrikatur von gesíchertem Kulturwissen über den „Anderen“ kaum unterscheiden. Zu tief sitzen Neid und Konkurrenz der Jahrhunderte in unseren Köpfen und den Gewohnheiten, uns selbst und den Anderen zu denken.
Erschwert werden die Überlegungen dadurch, dass ich eine Disziplin vertrete, die sich als Krisenwissenschaft versteht, nämlich die Soziologie, die nach übereinstimmender Auffassung französischen Ursprungs ist, aber seine Meister auch in Deutschland gefunden hat. Also dürfte das Verständnis der Soziologen über „Krise“ einen durchaus indikativen Wert haben, ohne freilich eine „Gesellschaftssemantik“ repräsentieren zu können, die nicht mit dem Odium der Beobachtungsbegriffslast zweiter Ordnung befasst wäre. Mit anderen Worten, was sich als sedimentierter Sprachgebrauch über Jahrhunderte in den jeweiligen Kulturen gesetzt hat, bedarf noch ganz anderer Verfahren der Bedeutungsanalyse der Wortfeldbetrachtungen, der Sinnwandlungen in einer ganz anderen Textkategorie: der Literaturen erster, zweiter und dritter Ordnung, von denen ich Ihnen viel zu wenig anbieten kann…
Vorbemerkung
Vielleicht noch eine Vorbemerkung zu dem Kontext, aus dem ich mich auf diese Thematik einlassen möchte: Im Juni des Jahres hatte ich die Ehre und das Vergnügen, eine Forschungsstelle eröffnen zu dürfen, die sich auf Émile Durkheim beruft, um Krisen zu analysieren:
Die Émile Durkheim- Forschungsstelle möchte sich mit Herausforderungen des 21. Jahrhunderts auseinandersetzen, die sich in diversen Krisen manifestieren, die erstmals von Durkheim in ihrer Weite und Verflechtung analysiert wurden Wir begegnen diesen Entwicklungen als Konsequenzen des Klimawandels, als Wiederkehr des Krieges, als dramatische Krise der Demokratie, der Ungleicheit der Verteilung von Reichtum und Wohlstand im globalen Maßstab oder der Krisen des „Geistes“ in Zeiten umfassender Digitalisierung und das Fortschreiten künstlicher Intelligenz. Diese Liste können wir um die Finanzkrisen, pandemische Krisen, Sinn- und Deutungskrisen usf. erweitern, indem nahezu jeder Ort der „condition humaine“ und sämtliche Sphären der Moderne (Max Weber) für Krisen anfällig sind. Sie lösen Diskurse über die Gerechtigkeit aus und führen in ihrer Gesamtheit zu einer Art „Krise der Gerechtigkeit“, die in sämtliche Bereiche der Gesellschaft ausstrahlt. Unmut, Widerständigkeit und Wut über die bestehenden Lebensverhältnisse artikulieren sich weltweit in einem solchen Gefühl erlittener Ungerechtigkeiten, das einer genaueren Analyse bedarf. Diese Krisenphänomene werden je nach medial beeinflusster Aufmerksamkeit durchaus in den jeweiligen Fachdisziplinen der Natur- und Geisteswissenschaften für sich erforscht. Die systematisch-komparative Analyse von Ursachen, Folgen und Verflechtungen dieser Krisenerscheinungen, wie er in den einzelnen Fachdisziplinen betrieben wird, ist jedoch vernachlässigt und verdient besondere Forschungsbemühungen.
Im Kontext dieser komplexen Fragestellung ist der Blick auf Krisensemantiken – wie ich hoffe – aufschlussreich und zugleich weiterführend für den praktischen Umgang mit der erdrückenden Last an Krisenerfahrungen, die sich nicht so einfach abschütteln lassen:
Der Plan für meinen Vortrag sieht Folgendes vor:
- methodologische Überlegungen, warum die „habitudes de coeur et de penser“ ein fruchtbarer Ansatz für den Vergleich und die Analyse von Wechselwirkungen sein kann, ein wenig, wie ich es in meinem Buch „Voyages sociologique. France – Allemagne“ einmal versucht hatte.
- Eine „voyage“ von Saint-Simon zu Auguste Comte und Émile Durkheim, um ihre Obsession mit der Krisenthematik nachzuvollziehen, die vielleicht nur damit zu tun hat, dass die „Revolution“ bekanntermaßen in Frankreich stattgefunden hat. Zeitgenössische Historische Gebrauchsliteratur wird zeigen wie selbstverständlich von Finanzkrisen, monetären Krisen , Ernährungskrisen, religiösen Krisen und politischen Krisen gesprochen wird. Dabei möchte ich die Komödie von Octave Feuillet, die den veritablen Titel „La crise“ trägt, nicht als Kuriosum behandeln, sondern aus dem Mangel einer Parallele zu diesem erotischen Boulevardstück eher die Eigenart des discours amoureux in Frankreich bestätigt sehen. Ob man die Abwesenheit von Ironie beim Krisenthema in Deutschland beklagen muss, ist eher eine Angelegenheit für Kenner des „Kulturkampfes“ in Deutschland.
- Hier begegnen wir auch der Sehnsucht nach Religion als Ferment der europäischen Gesellschaften, bei Novalis und anderen, aber die Krise „Europas“ wird weder bei Marx, noch bei Simmel und Weber als eine vorwiegend politische gesehen, sondern als eine ökonomische bei Marx, eine Krise der Kultur bei Simmel, selbst und vor allem in seiner „Philosophie des Geldes“ oder aber einem universalgeschichtlich inspirierten Welttheater der kontradiktorischen Rationalitäten des Okzidents bei Max Weber.
- Vielleicht können wir dann die Linie zu Bourdieu’s „Misère du Monde“ oder den Widersprüchen der Spätmoderne bei Habermas zwischen „System und Lebenswelt“ weiter beobachten, um zu sehen, ob uns Bruno Latour und Ulrich Beck etwa neue Einsichten zur découpage de l’objet und seiner Heilung auf den Weg geben können….
Das also ist mein Programm, für dessen Ausfüllung ich mindestens zwei Tage oder 12 Vorlesungsstunden benötigen würde…