Named Fellowships
Die Émile Durkheim-Forschungsstelle basiert auf den Prinzipien
- der Internationalität
- der Interdisziplinarität
- dem Fellowprinzip
- der Bildung einer thematisch auf „Krisenanalysen“ fokussierten Lerngemeinschaft
Diese Prinzipien bilden sich auch in unserem Fellowprinzip ab, wo fünf Fellowships die unterschiedlichen Disziplinen und Regionen bezeichnen, die in postglobalen Zeiten von besonderer Bedeutung sind.
In diesem Sinne werden folgende Named Fellowships eingerichtet:
- Émile Durkheim-Fellowship
- W.E.B. Du Bois-Fellowship
- Mary Douglas_Feellowship
- Ambedkar-Fellowship
- Chie Nakane-Fellowship
Émile Durkheim (1858-1917) - Fellowship
Mit Émile Durkheim knüpft das Zentrum an eine Gründerfigur der Sozialwissenschaften an, die weltweit mit größtem Respekt rezipiert wurde. Marcel Mauss, Marc Bloch, Maurice Halbwachs bis Pierre Bourdieu und Bruno Latour, Mary Douglas bis Talcott Parsons und Jeffrey C. Alexander berufen sich auf Durkheim und seine Zeitschrift, die Année sociologique. Angesichts einer verspäteten Rezeption Durkheims in Deutschland, bietet es sich an, den Autor auch durch die Einrichtung eines entsprechenden Fellowships zu ehren, der durch seine Studienaufenthalte in Deutschland in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts wichtige Prägungen, u.a. bei Wilhelm Wundt erfahren hat. Die antisemitische Verfemung Émile Durkheims im Nationalsozialisms, der von sich sagte „avant tout je suis fils de rabbin“, hatte seine Spuren in Deutschland hinterlassen gegen die man mit der erstmaligen Benennung eines Forschungszentrums nach Durkheim ein Zeichen setzen könnte.
Das Durkheim-Zentrum möchte sich mit Herausforderungen des 21. Jahrhunderts auseinandersetzen, die sich in diversen Krisen manifestieren, die erstmals von Durkheim in ihrer Weite und Verflechtung analysiert wurden.
Wir begegnen diesen krisenhaften Entwicklungen als Konsequenzen des Klimawandels, als Wiederkehr des Krieges, als dramatische Krise der Demokratie, der Ungleicheit der Verteilung von Reichtum und Wohlstand im globalen Maßstab oder der Krisen des „Geistes“ in Zeiten umfassender Digitalisierung und das Fortschreiten künstlicher Intelligenz.
Hierbei ist dem Krisenbegriff, dessen Ursprünge Reinhard Koselleck bei Rousseau verortet, und den Durkheim in der Arbeitsteilungsstudie (‚De la division du travail social‘) für die sog. „anomische“, also nicht ausreichend regulierte Arbeitsteilung reserviert, ein Appellcharakter eingeschrieben. Sobald ein Phänomen als krisenhaft erfasst und in der Öffentlichkeit als solches definiert wird, wird zum Handeln aufgerufen!
Wie steht es um die Perzeption und Definition dessen was als „Krise“ gilt, also die „découpage de l’objet“ wie Durkheim es nennt? Gibt es Gemeinsamkeiten in der Dynamik der Krisenentfaltung und der strukturellen Umbrüche, die hiermit verbunden sind?
Mit Durkheims „Werkzeugkasten“, der die nach wie vor beunruhigende these der „Normalität des Verbrechens, vielleicht auch der „Krise“ enthält, wird man sich diesen Fragen in methodisch-systematischer Weise nähern können, ohne in eine „Durkheimologie“ zu verfallen.
W.E.B. du Bois (1868-1963) - Fellowship
Die Benennung eines Lehrstuhls für afrikanische Akademiker in der Emile Durkheim-Forschungseinheit an der Universität Bonn nach W.E.B. Du Bois bietet ein unvergleichliches intellektuelles Erbe, das tief in der soziologischen Erforschung von Race und Ungleichheit verwurzelt ist. Seine Werke wie The Souls of Black Folk (1903) und Black Reconstruction in America (1935) sind grundlegend für das Verständnis der afrikanischen Identität, des doppelten Bewusstseins und der Schnittstelle von Race und Klasse sowohl im afrikanischen als auch im globalen Kontext. Diese Beiträge passen gut zu Durkheims Fokus auf soziale Fakten und die strukturellen Kräfte, die die Gesellschaft formen. Darüber hinaus wird er nicht nur durch die Tatsache geehrt, dass er Weber auf seiner Amerikareise 1904 traf, sondern es ist durchaus denkbar, dass Webers konstruktivistisches Verständnis von „Race“ (konstituiert durch einen „Glauben an Gemeinsamkeit“) auch durch Dubois geprägt wurde, wie Lawrence Scaff betont hat. Aber die Verbindung reicht noch weiter zurück: Während seines Studienaufenthalts in Berlin (1892-94) hörte er Vorlesungen von Max Weber und lernte gleichzeitig die deutsche historische Schule mit Gustav Schmoller und Adolf Wagner kennen, die wiederum so wichtig für Émile Durkheims Erfahrung der deutschen Wissenschaft während seines Studienaufenthalts waren.
Du Bois' Konzept des doppelten Bewusstseins, das in The Souls of Black Folk eingeführt wurde, bietet einen tiefgreifenden Rahmen zur Untersuchung der psychologischen und kulturellen Dualität, der sich Afrikaner und die afrikanische Diaspora ausgesetzt sehen. Dies ist besonders relevant für die Untersuchung der Auswirkungen von Kolonialismus und Globalisierung auf die afrikanische Identität und macht Du Bois zu einem idealen Führer in der Analyse der Integration Afrikas in globale Systeme.
Seine Arbeit über Race und Kapitalismus, insbesondere in Black Reconstruction in America, untersucht darüber hinaus, wie ökonomische Strukturen historisch die afrikanischen Völker marginalisiert haben, was wichtige Erkenntnisse für das Verständnis der gegenwärtigen afrikanischen sozioökonomischen Realitäten liefert.
Während Gelehrte wie Leopold Senghor maßgeblich zur afrikanischen Denktradition beigetragen haben, insbesondere durch seine Befürwortung der Négritude, ist Du Bois’ breiterer Fokus auf globale Rassendynamiken, wie in Dusk of Dawn (1940) und seinen soziologischen Untersuchungen in The Philadelphia Negro (1899) erforscht, interdisziplinärer und umfassender.
Daher machen Du Bois’ empirische Strenge, theoretische Innovation und sein Fokus auf die afrikanische Diaspora ihn zur passendsten Wahl für die Durkheim-Forschungseinheit, in der komplexe soziologische Fragestellungen im Mittelpunkt stehen.
Mary Douglas (1921-2007) - Fellowship
Wer die große alte Dame jemals kennen gelernt hat, kann sich ihrem Einfluss kaum erziehen.
Es sind ihre bahnbrechenden Arbeiten, die ihr die außerordentliche Anerkennung in aller Welt und nicht nur unter Ethnologen verschafft hat: 1963 The Lele of the Kasai; Oxford University Press, London. 1966 Purity and Danger. An Analysis of Concepts of Pollution and Tabo; Routledge & Kegan Paul, London 1970 Natural Symbols. Explorations in Cosmology; 1973: überarbeitete Auflage; Barrie & Rockliff/Cresset Press, London 1978 The World of Goods. Towards an Anthropology of Consumption; mit Baron Isherwood; Basic Books, New York 1980 Evans-Prichard; Fontana Modern Master, Glasgow 1982 Risk and Culture: An Essay on the Selection of Technological and Environmental Danger; mit Aaron Wildavsk; University of California Press, London 1986 How Institutions Thin; Syracuse University Press, New York 1993 In the Wilderness: Doctrine of Defilement in the Book of Number; Sheffield Academic Press, Sheffield. Gearbeitet hat sie im Geiste von Evans-Pritchard, aber auch im namen des von ihr verehrten Émile Durkheim.
Das kann ich persönlich bestätigen, denn eines meiner – wie ich fand – besten Durkheimportraits habe ich ihr anlässlich eines Besuchs der Bonner Universität verehrt und sie scheint es, wie mir ihr Ehemann versicherte, in besonderen Ehren gehalten zu haben… Geographisch deckt sie die von ihr untersuchten Ethnien in Afrika und anderwärts ab, die Reichweite ihrer Themen ist von besonderem Interesse für die Émile Durkheim-Forschungsstelle: die Beutung von Ritualen für das Verständnis der condition humaine, die Rolle der symbolischen Räpresentationen und eigenen Wirkkräfte von Symbolen und das Verhältnis zur „Natur“, wie es in den Religionen entwickelt und praktiziert wird… „Risiko“ und „Gefahr“ sind Grundbegriffe einer Krisentheorie, bei deren Entwicklung ihr kreativer Geist befruchtend sein wird.
Bhimrao Ramji Ambedkar (Bhīmrāo Rāmjī Āmbēḍkar 1891 – 1956) - Fellowship
Wer je in Indien war, wird die zahlreichen Ambedkar-Statuen bemerkt haben als Ausdruck der Verehrung für den Wissenschaftler, der einen so wichtigen Beitrag für die Genese der indischen Verfassung geleistet hat. Als Angehöriger der Mahar, einer Bevölkerungsgruppe, die traditionell zu den Dalits gezählt wird, kämpfte Ambedkar gegen die soziale Diskriminierung durch das System der Kategorisierung der hinduistischen Gesellschaft, was Spuren in der auf Ewigkeit angelegten Verfassung Indiens hinterließ, deren kostbare Schriftrollen in Helium aufbewahrt werden. 1922 war Ambedkar an der Universität Bonn eingeschrieben, als Sohn eines Generals, auch wenn sein Vater wohl nur einfacher Offizier war. Aber diese Position war Voraussetzung dafür, dass er aus der Gruppe der „Unberührbaren“ herauswachsen konnte. Sein letzter wissenschaftlicher Beitrag der über „Marx und Buddha“ ging, war Inspirationsquelle einer plastischen Arbeit von Alexander Polzin, die im Jahre 2013 im Käte Hamburger Kolleg im Beisein des indischen Generalkonsuls enthüllt wurde.
Mit der Benennung eines Ambedkar-Fellowships an der Émile Durkheim-Forschungsstelle wird ein bedeutender Wissenschaftler und Aktivist geehrt, der die Fesseln der Kastengesellschaft zu sprengen suchte, um als Anwalt, Jurist und Ökonom für eine gerechtere Welt einzutreten. Mit der Einrichtung des Ambedkar-Fellowships verbinden wir die Hoffnung, von der Fruchtbarkeit gerade in Indien entwickelter Forschungsperspektiven zu profitieren, die mit den Namen Upendra Baxi, Homi Bhabha oder Dipesh Chakrabarty in Verbindung stehen.
Chie Nakane (1926-2021)
Ganz ähnlich wie Amerika für die neue Welt zum soziologischen Paradigma wurde – von Toqueville, bis Weber und Baudrillard – und Indien zum Pilgerort des „Legal Pluralism“ und des „Hbriden“, hat Japan einen überragenden Stellenwert für das Verständnis der Beziehung von Tradition und Moderne erhalten. Dies gilt für die Arbeiten von Ruth Benedict, Robert N. Bellah und: Chie Nakane. Ihr ist es gelungen, gleichzeitig partikulare Besonderheiten der japanischen Gesellschaft, etwa im System des Hauses (ie) zu identifizieren und andererseits in ihren Untersuchungen zu universal vertikalen Strukturen von Gesellschaft einen bedeutenden Beitrag zu den Grundlagen von Anthropologie und Soziologie gelegt zu haben. Feministische Anliegen hat sie weniger theoretisiert als praktiziert: sie wurde die erste weibliche Assistentin und schließlich Professorin an der University of Tokyo. Ihre Forschungen in Indien und Japan fanden große Anerkennung in den Fachgemeinschaften, aber auch in der weiteren Öffentlichkeit . Sie wurde mit dem Kulturverdienstorden ausgezeichnet und mit der Medal of Honour with Purple Ribbon. Nachdem sie im Alter von 94 Jahren verstarb, war die Rede von einem Kondulenzschreiben des Kaisers, aber die Familie nahm dies nicht an, im Sinne einer viel gerühmten Bescheidenheit Chie Nakanes.
Heute scheint man sie nicht mehr gut zu kennen in Japan, wie mir mein Freund Masahiro Noguchi aus Tokio schreibt. Mit der Benennung eines Fellowships wird an eine große Forscherin erinnert, die für die Idee der Objektivität und Klarheit des Denkens steht, wovon jeder infiziert wird, der in ihre Schriften geschaut hat. Auch mit ihrer Themenwahl von Liebe, Verwandtschaft und Familie scheint sie mir der Tradition der Durkheimschen Soziologie und der Année sociologique nahezustehen, in der übrigens zahlreiche Rezensionen zu Gesellschaft und Recht in Japan zu finden sind.